Brände und katastrophale humanitäre Zustände im europäischen Flüchtlingscamp Moria während einer globalen Pandemie, Skandale um die Grenzschutzagentur FRONTEX, der Bruch des EU-Türkei-Deals durch die Türkei und Abschiebungen nach Afghanistan, die bis August 2021 weiterhin erfolgten – insgesamt kann man die Asylpolitik der letzten Legislaturperiode vor diesen Ereignissen wohl folgendermaßen zusammenfassen: Das Ziel der großen Koalition, Zuwanderung nach Deutschland zu reduzieren, „damit sich 2015 nicht wiederholt“, wurde zwar erreicht – allerdings auf Kosten europäischer Werte, völkerrechtlichen Verpflichtungen und nicht zuletzt auf Kosten der Immigrant*innen selbst.
Ziel des Koalitionsvertrags war, „Migrationsbewegungen nach Deutschland und Europa angemessen mit Blick auf die Integrationsfähigkeit der Gesellschaft zu steuern und zu begrenzen“(S. 103). Umgesetzt wurden die festgelegten Vorhaben vor allem bis 2019, durch die Corona-Pandemie verlor das Thema Zuwanderung in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode innenpolitisch an Aufmerksamkeit und Bedeutung. Die zentralen Maßnahmen der nationalen Migrationspolitik wurden 2019 gesammelt als „Migrationspaket“ verabschiedet und bearbeiten die Schwerpunkte der Migrationspolitik, die im Koalitionsvertrag verankert waren.
1. Asylpolitik & Integration:
Was sollte passieren? Um die Zahl der Asylanträge langfristig zu senken wollten Union und SPD „Fluchtursachen bekämpfen, nicht Flüchtlinge“ (Koalitionsvertrag, S. 103). Zudem sollte das Asylsystem auf europäischer Ebene reformiert und vereinheitlicht werden, auf nationaler Ebene sollten die Verfahren „effizienter“ durch die Einführung von so genannten „ANKER-Zentren“ sowie durch die Ausweitung der „sicheren Herkunftsstaaten“ auf Algerien, Marokko und Tunesien und weitere Staaten, in denen im Schnitt weniger als 5% der Asylanträge anerkannt werden (Koalitionsvertrag, S. 107-108).
Was wurde erreicht? Auf europäischer Ebene wurde keine Reform des Verteilungssystems für Asylsuchende – dem so genannten Dublin III-Abkommen – erreicht, lediglich im Bereich des Grenzschutzes erfolgte die personelle Aufstockung der Grenzschutzagentur FRONTEX, die nun über eine dauerhafte Reserve von 1500 Mann (Bundesregierung). Das Abkommen mit der Türkei besteht – trotz Bruch im März 2020 – weiterhin und sorgt für relativ geringe Ankunftszahlen.
Auf nationaler Ebene sieht die Regierungsbilanz erfolgreicher aus: Die versprochenen ANKER-Zentren wurden eingeführt, zudem wurden im Rahmen des Migrationspakets drei Gesetze verabschiedet, die vor allem auf den Umgang mit ausreisepflichtigen Migrant*innen regeln.
So soll mit dem „Geordnete-Rückkehr-Gesetz“ durch die Sanktionierung von Asylbewerber*innen, die „nicht aktiv an der Klärung der eigenen Identität mitwirken“, durch die Erleichterung der Inhaftierung „ausreisepflichtiger“ Ausländer*innen sowie die Ausweisung straffälliger Asylbewerber*innen die Rückkehr derer effizienter gestaltet werden, „die kein Bleibereicht in Deutschland haben“. Das Gesetz zielt auch darauf ab, die so genannte Sekundärmigration innerhalb der EU einzudämmen: So haben Menschen mit Schutzstatus in einem anderen EU-Staat keinen Anspruch mehr auf deutsche Sozialleistungen.
Relativiert werden diese eher restriktiven Maßnahmen durch das bis 2023 befristet gültige Beschäftigungsduldungsgesetz, durch das im August 2019 in Kraft getretene Ausländerbeschäftigungsförderungsgesetz sowie durch eine Reform des Asylbewerberleistungsgesetz. Zum einen soll damit die Duldung von gut integrierten, ausreisepflichtigen Ausländer*innen sicher gestellt werden, zum anderen sollen die integrationsbereite Asylsuchende durch die Erleichterung des Zugangs zu Ausbildungsplätzen und Arbeitsmarkt sowie durch die Förderung ehrenamtlicher Tätigkeiten.
2. Erwerbsmigration:
Um die Erwerbsmigration, also die Einwanderung in den Arbeitsmarkt, auch für Nicht-EU-Bürger*innen zu regeln, wurde das so genannte Fachkräfte-Einwanderungsgesetz verabschiedet, das im Januar 2020 in Kraft trat. Neuerungen sind hiermit der Wegfall der Vorrangprüfung und die Möglichkeit, auch ohne Arbeitsvertrag zur Suche eines Ausbildungsplatzes nach D zu kommen.
Hintergrund: Ereignisse der Migrationspolitik
Moria:
Im überfüllten Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos hatte sich die katastrophale Situation durch Corona weiterhin verschlechtert: Die knapp 12 500 Menschen hatten weder Zugang zu ausreichend Wasser noch zu Hygiene-Einrichtungen, angesichts eines Corona-Falls wurde das gesamte Lager in Quarantäne versetzt. Forderungen nach der Evakuierung des Camps wurden noch lauter, als das Camp im September 2020 durch einen Brand vollständig zerstört wurde. Jedoch verhinderte das Bundesinnenministerium zunächst – trotz Aufnahmebereitschaft vonseiten der Kommunen und Länder – die Aufnahme von Bewohner*innen des Camps. Mit Blick auf die unveränderte Gesetzeslage der EU-Asylpolitik und auf die Situation an den EU-Außengrenzen lässt sich sagen: Moria gibt es weiterhin, auch wenn es jetzt einen anderen Namen hat.
EU-Türkei-Deal:
Die im Jahr 2016 abgeschlossene EU-Türkei-Erklärung ist maßgeblich für den Rückgang der Asylanträge in der EU verantwortlich, der seit 2015 anhält: Im Schnitt kommen nach Angaben der Bundesregierung täglich nur noch 104 Schutzsuchende auf den betroffenen Inseln im Mittelmeer an (Vergleich: 2015 waren es 7000 Menschen pro Tag). Zwar hat dieser Vertrag folglich zur De-Eskalation der gesellschaftlichen Krisenstimmung innerhalb der europäischen Gesellschaften beigetragen – doch zunehmend werden auch die Schattenseiten des Abkommens erkennbar: Die EU gibt damit nicht nur ihre Verantwortung zur Einhaltung der Menschenrechte für Geflüchtete an ein zunehmend autokratisches Regime ab, aus sicherheitspolitischer Perspektive hat die Türkei mit dem Vertrag außerdem ein politisches Druckmittel gegen die EU in der Hand. Im März 2020 wurde deutlich, dass der türkische Präsident Erdogan auch bereit ist, dieses Mittel zu nutzen, als die Türkei knapp 18 000 Asylsuchende in Bussen an die EU-Außengrenzen fuhr.
https://www.tagesschau.de/faktenfinder/eu-tuerkei-fluechtlingsabkommen-109.html